Samstag, 23. Dezember 2017

Die Karottensuppe des Dr. Ernst Moro

In letzter Zeit hatte ich wieder häufiger im Zusammenhang mit Darmerkrankungen bei Hunden und Menschen mit der Karottensuppe von Ernst Moro zu tun. Da es dabei auch um Kohlenhydrate geht, auf die ich in den letzten beiden Artikeln (Teil 1, Teil 2) eingegangen bin, habe ich mich entschlossen, dieses interessante Thema hier auszubreiten. Zu einem gewissen Teil betrifft es natürlich auch Kaninchen, wie der geneigte Leser eventuell erstaunt feststellen wird.

Dr. Ernst Moro war von 1907-1910 an der Königlichen Universitäts-Kinderklinik in München tätig und sah sich dort mit einer hohen Säuglingssterblichkeit konfrontiert. 1908 veröffentlichte er einen Beitrag, der sich mit dem Einsatz einer „Karottensuppe“ bei Säuglingen beschäftigte, die an schweren Darmerkrankungen litten. Die Symptome waren ähnlich denen bei Vergiftungen („akute Nährstoffvergiftung“) wie starke Durchfälle und Abmagerung, die zum Teil auf den Einsatz von Kuhmilch in der Ernährung zurückgeführt wurden. Die bis dahin übliche „Wasserdiät“ mit verdünnter Kuhmilch führte nur selten zum Erfolg. Nach Einführung der Karottensuppe und deren Verfütterung „à discretion“ (Menge nach Belieben bis zur Sattheit, vergleichbar mit "ad libitum") sank die Sterblichkeit dramatisch, und zwar ohne zusätzlichen Einsatz von Medikamenten. Säuglinge, die „äußerst schlaff, blass, mit verzerrten Zügen, geöffneten Mund eingebracht wurden, trafen wir am nächsten oder zweiten Tag voller, mit frischem Blick, mit recht gutem Teint, mit geschlossenem Mund und der für gesunde Kinder charakteristischen Haltung, den größten Teil des Tages in ruhigem Schlafe liegen“ (Moro, 1908).

Als auffällig beim Einsatz der Karottensuppe wurde eine hohe Kotmenge bei gleichzeitiger Wasserretention beschrieben. Ebenfalls auffallend war der geringe Bakteriengehalt im Kot: während gramnegative Bakterien überwogen, fanden sich nur wenige grampositive wie z. B. „Escherichia coli“: „Die Karottendiät führt demnach zu einer radikalen Umstimmung der Darmflora und arbeitet so zweifellos auch den Gefahren der endogenen Infektion wirksam entgegen.“. Eine weitere Feststellung war die Steigerung der „Nährstofftoleranz“, das heißt, nach einer längeren Gabe der Karottensuppe konnte relativ problemlos wieder auf andere Nahrung gewechselt werden, selbst Kuhmilch wurde wieder vertragen.

Bei „Escherichia coli“ (E. coli) handelt es sich um Bakterien, die ein Krankheitsgeschehen durch ihre Adhärenz (Anhaften) an Epithelzellen des Darms sowie ihre Fähigkeit zur Bildung von Enterotoxinen (Gifte, die den Darm angreifen) mitbestimmen. Das Bakterium wurde erstmals 1886 von Theodor Escherich beschrieben, nach dem es später auch benannt wurde.

Über die Zusammensetzung der Karottensuppe gibt es ganz verschiedene Auskünfte, deshalb sei an dieser Stelle der entsprechende Auszug aus dem Originalartikel von Ernst Moro angeführt.

Bild : Originalrezept der Karottensuppe aus dem Artikel von Ernst Moro, 1908



Für die Karottensuppe von Moro gab es ein Vorbild und so sei ehrenhalber darauf verwiesen, dass französischen Medizinern eigentlich das Lob gebührt. Die "Gemüsesuppen der Franzosen" wiesen nach Moro aber nicht die Erfolge auf, wie er sie mit der Karottensuppe erzielen konnte.

Dass die Karottensuppe später wieder etwas in Vergessenheit geriet, hat einen einfachen Grund - mit ihr lässt sich kein Geld verdienen. Einziger Profiteur wäre der Bauer, der die Karotten anbaut. Zu jener Zeit kamen die ersten Antibiotika sowie Antidiarrhoika auf und deren Verabreichung war einfacher und für Pharmaunternehmen lukrativer, wenn auch oft mit äußerst unangenehmen Nebenwirkungen verbunden.

Eine Erklärung für die Wirkung der Karottensuppe konnte Ernst Moro noch nicht liefern, weil das Wirkprinzip erst später aufgeklärt wurde.

Pectine
Pectine als pflanzliche Polysaccharide (Kohlenhydrate) gehören zu den Gerüstsubstanzen von Pflanzen und bilden dort einen wichtigen Bestandteil der Zellwand. In den Mittellamellen und primären Zellwänden erfüllen sie festigende und wasserregulierende Funktionen. Außerdem verleihen sie der Mittellamelle und den Primärwänden von Pflanzenzellen die für deren Wachstum und Streckung erforderliche Elastizität. Sie fungieren somit als interzelluläre Kittsubstanz (Hänsel & Sticher, 2007). Sie sind für Mensch und Tier unverdaulich, weil diese nicht über die entsprechenden Enzyme verfügen, die sie verwertbar machen könnten. Diese Aufgabe übernehmen Bakterien, die im Blinddarm siedeln. Produkte dieses Abbaus sind Fettsäuren sowie Bakterienprotein. Das heißt, dass "rohe" Lebens- oder Futtermittel zwar Pectin enthalten, dieses aber dem Organismus nicht direkt zur Verfügung steht. Diese Pectine werden in der menschlichen Ernährung auch als "Protopektine" bezeichnet, um sie von solchen abzugrenzen, die als aufbereitete, chemisch veränderte in der Ernährung Anwendung finden.

Bei Pectinen handelt es sich im wesentlichen um Ketten von Galakturoniden, deren Säuregruppen zu 20-80% mit Methanol verestert sind. Neben Galacturonsäure (GalA) als Hauptbestandteil besteht Pectin aus verschiedenen Zuckerbausteinen wie Glucose, Galactose, Xylose und Arabinose. In verschiedenen Versuchen konnte gezeigt werden, dass bestimmte Galakturonsäuren (auch "saure Oligosaccharide") das Anhaften von E. coli-Bakterien an die Darmwand verhindern können (Guggenbichler et al., 1995; Kastner et al., 2002). Somit werden die Krankheitserreger, ohne Schaden anrichten zu können, ausgeschieden. Durch das Zerkleinern und anschließende Kochen werden die sauren Oligosaccharide der Karotte dem Organismus zugänglich gemacht.

Pectine binden Wasser, was den Wasserverlust bei Durchfällen verhindert, verlängern die Passagezeit des Nahrungsbreis im Darm und vergrößern die Kotmenge. Gequollenes Pektin legt sich als Schutzschicht auf die Darmwand. Dadurch wird die Adhäsion von Keimen verhindert (siehe Moro). Außerdem binden sie Schwermetalle und führen sie aus dem Organismus ab.     

Neben den Pectinen in grünen Pflanzen sind für die menschliche Ernährung vor allem die in Obst (Apfelpectin, Pectin aus der Zitronenschale) und Gemüsen wie z. B. Rhababer und Rüben bekannt. Bei der Produktion von Säften fällt als "Nebenprodukt" mit dem Rückstand eine Masse an, die "Trester" oder "Presskuchen" genannt wird. Diese Trester sind reich an Pectinen. Von großen Teilen des Tierschutzes werden solche Zusätze in Futtermitteln häufig geringschätzig als "Abfall" bezeichnet und abgelehnt.

In zahlreichen Tierversuchen hat sich Pectin als sinnvolle, gesundheitsfördernde Nahrungsergänzung gezeigt und in diversen Artikeln/Büchern werden Pectine auch bei kleinen Herbivoren wie Kaninchen empfohlen: "Zusätze von Pektin (z. B. Apfelpektin aus dem Reformhaus) [...] unterstützen die Darmflora." (Kraft et al., 2012). Auch die bekannte Tierärztin Jutta Hein erwähnt in einem Beitrag 2016 ultrakurz und in Klammern "(Pektin etc.)" als "Prä-/Probiotika". Was also Wildkaninchen über die natürliche Nahrung tagtäglich zur Verfügung steht, soll Hauskaninchen gewissermaßen als Zusatz und im Reformhaus erhältliches Mittelchen zu Gesundheit verhelfen. Preisfrage: was macht man dann mit der Hauptnahrung des Hauskaninchens falsch?

Soweit zum Wirken und Nutzen der Karottensuppe von Ernst Moro, wobei noch einmal explizit darauf hingewiesen sein soll, dass erst die mechanische Zerkleinerung, das lange Kochen sowie die Ergänzung von Fett aus der Fleischbrühe die Wirksamkeit auslösen.

Die Karotte ist ja aber auch als sagenhafter ß-Carotin-Lieferant bekannt - wie sieht es denn damit aus? Warum färbt sich bei Babies, die mit Karottenbrei ernährt werden, die Haut rötlich/braun, während diese Veränderung z. B. bei Veganern, die vielleicht viel Karotten essen, nicht zu beobachten ist? 

Das ß-Carotin der Karotte
ß-Carotin als wichtigste Vorstufe von Vitamin A (Provitamin A) wird zum Aufbau, Schutz  und der Regeneration der Haut sowie Schleimhäuten benötigt. Es erhöht die Widerstandskraft gegen  Infektionen, steigert die Antikörperbildung und ist am Stoffwechsel von Kohlenhydraten, Eiweißen  und Fetten beteiligt. Eine wichtige Eigenschaft von ß-Carotin ist seine Fettlöslichkeit. Das bedeutet, dass es nur in Kombination mit einer Mindestmenge an Fett vom Organismus verwertet werden kann.
Nun hat sich schon bei den oben erwähnten Pectinen der Karotte ein kleiner Haken gezeigt: sie stehen erst nach aufwendiger Bearbeitung dem Organismus zur Verfügung. Für das ß-Carotin der Karotte lässt sich leider auch ein kleiner Haken feststellen, denn das Provitamin ist in der Karotte in eine feste Cellulosematrix eingebettet.

Tja, liebe Leser - und was wissen wir über Cellulose? Der tierische wie auch menschliche Organismus verfügt über keine Cellulasen (Enzyme), die diese Matrix aufbrechen könnten. Das können nur Bakterien, die im Blinddarm leben. Da ist es aber zu spät, um freiwerdende Nährstoffe noch dem Körper zuzuführen. ß-Carotin wird im Rahmen der Fettverdauung im oberen Dünndarm aufgenommen und in Vitamin A umgewandelt.

Karl-Heinz Bässler im Vitamin-Lexikon, 2007: "Aus rohen Karotten wird ß-Carotin z. B. nur ungenügend resorbiert (nur etwa 1 bis 2 Prozent). Der Grund ist, daß ß-Carotin in der Zelle kristallin vorliegt und von einer festen unverdaulichen Cellulosematrix umschlossen wird. Stellt man jedoch Karottensaft bzw. Karottenmus her, und wird dies noch gekocht und mit etwas Fett versetzt, so ist eine optimale Carotinoidausnutzung gewährleistet." (Hervorhebung von mir).

Nun wissen wir also auch, warum Veganer im Gegensatz zu Babies keine rote Haut durch den Verzehr von Karotten bekommen: der Brei der Babies wird nämlich gekocht und püriert, womit die Cellulosematrix aufgebrochen und somit das ß-Carotin besser verfügbar wird. Die biologische Verfügbarkeit von ß-Carotin aus rohen Karotten dagegen ist verschwindend gering, zumal sie auch nur sehr wenig Fett enthält.

An dieser Stelle möchte ich jetzt aber allen Lesern dieses Blogs und ihren geliebten Tieren erst einmal ein geruhsames, besinnliches und friedliches Fest wünschen. Bleiben Sie schön neugierig und interessiert!

Quellen:
  • Ärzte Zeitung (2011): Karottensuppe nach Moro könnte auch EHEC lahmlegen. Download von https://www.aerztezeitung.de/medizin/med_specials/ehec-2011/article (Abruf am 08.06.2011)
  • Bässler, K.-H. (2007): Vitamin-Lexikon. Vorkommen, Bedarf, Mangelerscheinungen, Anwendungsgebiete, Prävention, Supplementierung. 3. Aufl. (Sonderausg.) Köln: Komet. ISBN 3-89836-690-1 
  • Guggenbichler, J. P.; Meißner, P.; Jurentisch, J.; Bettignies-Dutz, A. (1995): Blockierung der Anlagerung von Keimen an menschliche Zellen. Patent-Nr. DE 43 30 773 A1, 16.3.1995
  • Hänsel, R.; Sticher, O. (2007): Pharmakognosie – Phytopharmazie. 8. Aufl. Heidelberg : Springer. ISBN 3-540-26508-2
  • Hein, J. (2016): Durchfall beim Kaninchen – Ursachen und Therapie. Kleintier konkret 19 (S 01). S. 2-9
  • Kastner, U.; Glasl, S.; Follrich, B.; Guggenbichler, J. P.; Jurenitsch, J. (2002): Saure Oligosaccharide als Wirkprinzip von wäßrigen Zubereitungen aus der Karotte in der Prophylaxe und Therapie von gastrointestinalen Infektionen. Wiener Medizinische Wochenschrift. 152.15-16. 379-381. 
  • Kraft, W.; Emmerich, I. U.; Hein, J. (2012): Dosierungsvorschläge für Arzneimittel bei Kleinnagern, Kaninchen und Frettchen. Stuttgart : Schattauer. ISBN 978-3-7945-2838-7
  • Moro, E. (1908): Karottensuppe bei Ernährungsstörungen der Säuglinge. Münchener Medizinische Wochenschrift No. 31. S. 1637-1640

Sonntag, 17. Dezember 2017

Kohlenhydrate. Teil 2

Nachdem im ersten Teil der Kohlenhydrate die Grundlagen festgehalten wurden, können wir uns jetzt den verschiedenen Futtermitteln widmen - insbesondere jenen, die nach Meinung vieler privater Experten "nur selten", in "geringen Mengen" usw. angeboten werden sollen.

Ich hatte Ihnen anhand des Beispiels der "Wiese" gezeigt, was die Futtermittelanalysen nach "Weende" und nach "van Soest" über die Kohlenhydrate aussagen. In dem folgenden Diagramm sind nun verschiedene Futtermittel mit ihren Werten aufgeführt. Die Legende und Erklärungen können dem ersten Teil entnommen werden. Neben den Balken der van Soest Analyse sind zum Vergleich in dunkelgrün noch einmal die Rohfaser und in hellgrün die NfE der Weende Analyse dargestellt.

Bild 1: Vergleich verschiedener Futtermittel anhand von Werten für Kohlenhydrate mittels "Weende" und "van Soest"


Ohne über konkrete Werte zu reden fällt erst einmal grundsätzlich auf, dass Äpfel, Möhren und Grünkohl über einen sehr viel höheren Anteil an NFC (blau) verfügen, als Wiese und Heu. Wir erinnern uns daran, dass NFC (non-fiber carbohydrats) die komplett verdaulichen Kohlenhydrate wie Zucker und Stärke enthält - also dass, was im Dünndarm sofort verstoffwechselt oder von Enzymen zu Ein- und Zweifachzuckern abgebaut und über die Darmschleimhaut dem Körper zur Verfügung gestellt werden kann. Die Mehrfachzucker (= Polysaccharide wie Cellulose und Hemicellulose) sowie Lignin dagegen wandern weiter in den Dickdarm und dienen vor allem im Blinddarm celluloseabbauenden Bakterien als Nahrung. Lignin wird als unverdaulicher Bestandteil direkt ausgeschieden.

Bild 2: Kohlenhydrate, die von tierischen Enzymen verdaut oder fermentativ durch Bakterien im Dickdarm verwertet werden, nach van Soest (1994)


In dem folgenden Diagramm habe ich eine Mischung (jeweils 33,3%) aus Möhre, Grünkohl und Heu angenommen und der Wiese gegenüber gestellt.

Bild 2: Analysewerte für ein Gemisch aus Möhre, Grünkohl und Heu im Vergleich zu Wiese, in g/kg TS


In dem Diagramm habe ich den Gehalt an NFC in Wiese grafisch auf das Gemisch von Möhre, Grünkohl und Heu übertragen. Die Klammer mit dem Fragezeichen zeigt an, was das Gemisch an NFC mehr als Wiese hat, also der arttypischen Nahrung von Kaninchen und was wohl damit passiert. Tja, das ist die große Frage - wohin mit dem Überschuss an komplett verdaulichen Kohlenhydraten?

Die Lösung ist recht einfach: ein Teil des Überschusses wird für schlechte Zeiten als Körperfett eingelagert und ein Teil wandert mit dem Speisebrei weiter in Richtung Blinddarm. Es kommt also ein beträchtlicher Teil an komplett verdaulichen Kohlenhydraten in den Blinddarm. Dort leben mehrheitlich zelluloseabbauende Bakterien. Ihre Menge und natürlich ihre Nahrung sorgt dafür, dass andere Bakterien sich nicht übermäßig vermehren können. Mit dem Gemisch aus Möhre, Grünkohl und Heu kommt nun deutlich weniger cellulose- und ligninhaltige Nahrung an, dafür aber ein ganzer Schwung an leicht verdaulichen Kohlenhydraten.

Mit der Zeit ändert sich die Zusammensetzung der Bakterien im Blinddarm, weil jene, die eigentlich nur in geringer Zahl vorhanden waren, stetig mehr Nahrung erhalten und die celluloseabbauenden weniger. Ein Teil von ihnen verhungert förmlich und ihr Platz wird nun von Bakterien eingenommen, die sich von Zucker, Stärke und so weiter ernähren. Auch Hefen (Pilze) ernähren sich von den komplett verdaulichen Kohlenhydraten und können sich auf Grund der "verbesserten" Nahrungssituation besser vermehren.

Das ist sehr vereinfacht eine Erklärung dafür, was passiert, wenn z. B. Wurzelgemüse, Kohl und auch Salate die Hauptnahrung von Kaninchen darstellt. Da kann auch das Heu nichts mehr "retten". Im Gegenteil, es macht alles nur noch schlimmer, weil man ja die anderen Nährstoffe wie z. B. essentiellen Aminosäuren nicht vergessen darf.

Zu den Bakterien, die sich u. a. von "Zucker" ernähren, gehören auch pathogene Stämme von Clostridium und E. coli. Diese produzieren Gase und Toxine (Gifte), die die Darmschleimhaut zerstören und in den Blutkreislauf gelangen können. Das Immunsystem wacht immer über die Gesundheit und wird eigentlich mit einer geringen Zahl von pathogenen Keimen fertig. Wenn diese aber gut ernährt werden und sich immer stärker vermehren, lässt auch die Wirksamkeit des Immunsystems auf Grund der vielen "Baustellen" nach - das Tier wird krank. Darauf haben jetzt andere Krankheitserreger nur gewartet, so z. B. Kokzidien. Sie nutzen die Lücken im schwächer werdenden Immunsystem und vermehren sich nun ebenfalls in einem Maß, wie es vorher - mit intaktem Immunsystem - nicht möglich gewesen wäre. Pathogene Bakterien + Hefen + Kokzidien - für die meisten Kaninchen beginnt jetzt ein Kreislauf des Schreckens. Halter und auch Tierärzte grübeln, wie es zu dem Disaster kommen konnte, es wurde doch nichts geändert und das Tier war lange Zeit gesund? Ja sicher, aber wir reden von einem Prozess. Ernährungsbedingte Erkrankungen äußern sich zum Teil erst nach langer Zeit. So lässt sich z. B. bei Kaninchen, die Vitamin D nicht über das Futter oder natürlichem Sonnenlicht bekommen, erst nach einem halben Jahr im Blut keines mehr nachweisen. Eine weitere Zeit wird es dauern, bis die ersten Schäden am Tier sichtbar werden. Die werden natürlich nicht dem fehlenden Vitamin D zugerechnet sondern man sucht nach etwas, was sich in jüngster Vergangenheit geändert haben könnte.

Die ersten Anzeichen für ein übermäßiges Wachstum schädlicher Bakterien können Geräusche im Darmtrakt wie "Gluckern" sein, Aufgasungen, Durchfall, Blinddarmkot, der nicht mehr aufgenommen wird (weil er pathogene Keime enthält), Schwäche und verringerte Aktivität. Dann ist eine Erkrankung bereits manifest. Kokzidiose, die eigentlich nur für Jungtiere während der Zeit der Umstellung von flüssiger auf feste Nahrung eine Gefahr darstellt, ist bei älteren Tieren ein sicheres Zeichen dafür, dass mit der Enrährung etwas nicht stimmt. Stress kann ein weiterer Faktor sein, der solche Fehler zum Vorschein bringen kann.

Ein Blick auf die "Rohfaser" und "NfE" der Weende-Analyse zeigt, dass sich die Werte wohl nicht immer unbedingt vergleichen lassen. Das heißt, dass bei bestimmten Futtermitteln wie Gemüse, Kohl und Salat die Rohfaser fast komplett das Lignin und einen großen Teil der Cellulose enthält, während sie bei Wiese Lignin und etwas mehr als die Hälfte der Cellulose ausmacht. Die Hemicellulose taucht in der Weende-Analyse überhaupt nicht auf, weshalb auch die Einschätzung des Nutzens der NfE eher ein Blick in die Glaskugel ist. Wer also meint, die NfE wären ein leicht zu verdauender Anteil von Kohlenhydraten, befindet sich gewissermaßen auf dem Cellulose-Holz-Weg.

Betrachtet man die Rohfaser, ergibt sich "nur" eine Differenz von 12% weniger in dem Gemisch gegenüber Wiese, während der NDF-Gehalt, also der der gesamten Gerüstsubstanzen, einen Unterschied von 66% aufweist!

Bild 3: Rohfaser- und NDF-Defizit in einem Gemisch aus Heu, Möhre und Grünkohl im Vergleich zu Wiese, Analysewerte in g/kg TS; Differenz in %


Der Vergleich zeigt, wie trügerisch eigentlich der Wert der Rohfaser ist. Nach Lehrmeinung ist sie wichtig für die Verdauung des Kaninchens, weil sie den schwer- und unverdaulichen Anteil der Nahrung enthalten würde. Aber weit gefehlt! Diese Aussage ist nur für NDF der van Soest Analyse zutreffend, also für die Neutrale Detergenzienfaser, die die gesamten Gerüstsubstanzen einer Pflanze enthält, nämlich Lignin + Cellulose + Hemicellulose. Die Hemicellulose findet sich in der Rohfaser in diesen Beispielen gar nicht wieder. Ihr Betrag liegt in dem Gemisch aus Heu, Möhre und Grünkohl um etwa 40% niedriger als in Wiese.

Hier noch einmal ein Diagramm, welches nur die Rohfaser (Rfa) und Stickstofffreien Extraktstoffe (NfE) aus der Weende Analyse sowie die Neutrale Detergenzienfaser (NDF), also alle schwer und unverdaulichen Gerüstsubstanzen sowie die Nichtfaser-Kohlenhydrate (NFC) als voll verdauliche Kohlenhydrate zeigt.

Bild 4: Vergleich von Rfa, NfE der Weende und NDF, NFC der van Soest Analyse am Beispiel eines Gemisches aus Heu+Grünkohl+Möhre sowie Wiese, in g/kg TS


Ist der Unterschied zwischen den Rohfasergehalten (dunkelgrün) augenscheinlich nicht so erheblich, zeigen die NDF-Gehalte dagegen ganz deutlich, was den Unterschied zwischen Futtermitteln ausmacht - die Gerüstsubstanzen. Besonders deutlich wird aber der Unterschied der beiden Analysemethoden, wenn man sich die NfE im Vergleich zu den NFC ansieht (oder ausrechnet): während in dem Gemisch mit Grünkohl, Möhre und Heu der Unterschied ca. +25% im Vergleich zur Wiese beträgt, sind für die NFC +62%!

Jetzt wollen wir mal Frau Meier befriedigen und schauen, was denn so Wissenschaftler der heutigen Zeit zu dem Dilemma mit den Kohlenhydraten äußern.

Da wäre zum Beispiel das Lehrbuch von Kirchgeßner et al. (2008), ein Leitfaden für Studium, Beratung und Praxis zu nennen. Dort kann man u. a. folgendes lesen: "Der schwächste Punkt ist jedoch die Unterteilung der Kohlenhydrate in N-freie Extraktstoffe und Rohfaser. Ursprünglich sollten dadurch die besser verdaulichen Kohlenhydrate von den weniger verdaulichen unterschieden werden. In Wirklichkeit wird aber durch die Rohfaserbestimmung je nach Futterstoff nur ein mehr oder weniger großer Anteil der Gerüstsubstanzen (Cellulose, Hemicellulosen, Lignin) erfasst; der andere Teil bleibt in Lösung und kommt damit zu der Fraktion N-freie Extraktstoffe. Dies kann zur Folge haben, dass in Einzelfällen die Verdaulichkeit der Rohfaser höher liegt als die der N-freien Extraktstoffe." Naja, das ist ja jetzt nichts bahnbrechend Neues, revolutionär Anderes, weil das ja schon in den 1870er Jahren bekannt war. Weiter geht es folgendermaßen: "Die gesamte Fütterungslehre ist auf der Futtermittelanalyse nach dem Weender System aufgebaut. Modifizierte Verfahren lassen sich deshalb nicht ohne Weiteres durchsetzen. Die Anwendung neuer Futtermittel-Analysensysteme werden sich deshalb nur auf spezielle Einzelfälle beschränken.".

Das modifizierte Verfahren von van Soest stammt aus den 1960/70er Jahren, ist jetzt also rund 50 Jahre alt. Wenn man bedenkt, was ein verbessertes Wissen über die Kohlenhydrate für die Tiergesundheit bedeutet, klingt das schon sehr verhalten. Hat der Wissenschaftstandort Deutschland wirklich so stark abgebaut, dass man die Analyse von drei Gruppen der Kohlenhydrate nicht anwenden und deren Ergebnisse gewinnbringend für die Tiergesundheit einsetzen kann?

Die Analysemethode an sich scheint das Problem nicht zu sein, denn es gibt heute Geräte, die die gesamte Analyse der Faserfraktionen automatisch erledigen. Probe rein, Knopf drücken - zack und fertig. Es gibt Geräte, mit denen 24 Proben gleichzeitig innerhalb von rund 1,5 Stunden geprüft werden können (ich mache jetzt aber keine Werbung). Man könnte also zumindest die Faserfraktionen sowie die NFC ("Zucker") selbst aus einer Serienfertigung von Futtermitteln in der Deklaration angeben, die ja chargenweise erfolgt. Und genau hier wird wohl das eigentliche Problem liegen. Also nicht in der Prüfung, sondern in der Offenlegung der Ergebnisse.

Für Kaninchen in Deutschland fühlt sich, wissenschaftsmäßig, die "World Rabbit Science Association" (WRSA) zuständig. Zur Qualität von Pflanzenfasern in deutschen, pelletierten Alleinfuttermitteln äußerte sich der damalige stellvertretende Vorsitzende R. Krieg (2011), in folgender Weise: „Eine Möglichkeit, Mindestanforderungen an Rohfaser zu gewährleisten, sind Einzelfuttermittel mit einem definierten Lignin- und Zellulosegehalt. Die Verabreichung derartiger Komponenten in Futtermischungen oder als Einzelfutter ist nahezu unmöglich.".

Diese Darstellung ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Im Jahr 2011 argumentiert ein wissenschaftlicher Kaninchenexperte, dass Mindestanforderungen an Rohfaser (dem alten Dingens aus 1860!) in Bezug auf Lignin und Zellulosegehalte nicht erfüllbar sind ("nahezu unmöglich"). Heißt also, man kann es nicht. Das heißt für mich, dass man zwar weiß, was gut wäre, kann es aber nicht. Ok - aber dann könnte man doch wenigstens angeben, was drin ist, oder? "Gut" kann man nicht, also muss man eben die Realität deklarieren. Dann könnte sich jeder selbst ein Bild machen - wir erinnern uns daran, dass ja der DVT behauptet, es würde ja nicht stimmen, das wir nicht wüssten, was in einem Futtermittel drin ist. Will man aber nicht. 24 Proben in 1,5 Stunden, Angabe der Faserfraktionen auf dem Sack und fertig. Will man nicht, macht man nicht.

Das Aussage von R. Krieg (2011) geht noch weiter: "Daher hat sich für derartige Wahlmöglichkeiten die Pelletierung als Methode der Wahl gezeigt. Es ist hervorzuheben, das der Begriff Pellet lediglich eine technische Verfahrensweise zur Kompaktierung von Einzelfuttermitteln […] ist.“. Die Aussagen sind echt abenteuerlich. Also: man kann den Fasergehalt in einem Futtermittel nicht so einstellen, dass er Empfehlungen entsprechen würde und deshalb werden die Futtermittel pelletiert. Ich übersetze das mal für die Hausfrauen und -männer: Sie wollen einen Kuchen backen. Sie haben auch ein Rezept dafür. Da steht genau drin, was und in welchen Mengen alles in den Teig gegeben werden muss. Jetzt fehlt Ihnen aber vielleicht die Waage oder Sie bekommen nicht das, was in dem Rezept steht. Was machen Sie jetzt also? Genau!!! Sie häckseln das, was Sie haben, einfach alles klein, drücken (kompaktieren) es durch die Spaghettipresse, schnipseln das was rauskommt klein und haben jetzt genau das, was Sie wollten! Ist das nicht genial?! Das ist die "Methode der Wahl"! Schmeckt zwar nicht und macht Bauchschmerzen, aber ist doch egal - Sie haben das Problem gelöst. Wissenschaftlich. Mit der Methode der Wahl. Apropos Wahl: der Mensch kann das Ergebnis der Wahl einfach wegschmeißen und sich etwas zubereiten oder holen, was ihm schmeckt und keine Bauchschmerzen macht - das Kaninchen hat diese Wahl eben nicht. Das muss das Zeug fressen.

Also, liebe Frau Meier - die neuesten, wissenschaftlichen Aussagen renommierter Experten führen hier eher auf den Holzweg als auf den der Erkenntnis. Man sollte mithin gut abschätzen, welchen Quellen man sein Vertrauen schenkt, egal, wie alt die sind.

Wie auch immer: seit Anfang der 2000er Jahre existieren für pelletierte Futtermittel Empfehlungen für die Gehalte an NDF, ADF und ADL und somit auch indirekt für die Kohlenhydratgruppen Cellulose und Hemicellulose. Wenn man schon nicht die Herstellung verteuern möchte, um Futtermittel mit den entsprechenden Gehalten herzustellen und somit sicherer für die Ernährung und Gesundheit von Kaninchen zu machen, wäre es zumindest angebracht, die derzeitigen Gehalte zu deklarieren. Warum das nicht geschieht, lässt tief blicken. Man darf davon ausgehen, dass die Gehalte jenseits von Gut und Böse liegen und vermutlich aus stark schwanken. Manchen Züchter sollte es aber nicht unbedingt wundern, wenn in seinem Bestand auf einmal eine rätselhafte Seuche umgeht. 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kenntnis der einzelnen Kohlenhydratgruppen eine bessere Beurteilung von Futtermitteln zulässt als die Werte für Rohfaser und Stickstofffreien Extraktstoffe der Weende-Analyse. Ohne absolute Werte zu kennen, lässt sich feststellen, dass sich verschiedene Futtermittel in Bezug auf NDF und NFC Gruppen einteilen lassen - Gemüse mit einem niedrigen NDF- und hohen NFC-Gehalt und Gräser/Kräuter (Wiese) mit einem hohen NDF- und niedrigen NFC-Gehalt. Daraus lassen sich wiederum mögliche Erkrankungen ableiten. Eine übermäßige Verfütterung von Gemüse kann auf Grund des hohen NFC-Gehaltes zu Darmerkrankungen führen, die ihrerseits wiederum zu weiteren Krankheiten führen können wie z. B. parasitär verursachte wie Kokzidiose oder die übermäßige Besiedelung des Darms mit Hefen.

Oder mit noch einfacheren Worten: aus Gemüse, Kohl und Salaten kann so viel Zucker produziert werden, dass der Darm damit regelrecht überschwemmt wird, während schwer- und unverdauliche "Ballast"-Stoffe fehlen. Selbst wenn Gemüse gemeinsam mit Heu die Hauptnahrung des Kaninchens bilden soll, ist der Anteil an "Zucker" im Vergleich zur arttypischen Nahrung immer noch sehr hoch.

Wissen Sie, liebe Leser, warum ich selbst jetzt im Dezember immer noch auf Wiesen mühsam zusätzlich Grünes hole, auch wenn ich weiß, dass der Nährstoffgehalt in diesem mittlerweile recht dürftig ist?
  1. Weil Kaninchen kauen müssen - auch im Winter
  2. Weil aus einem zu hohen Anteil an NFC Darmkrankheiten resultieren können
  3. Weil der Nährstoffgehalt offenbar immer noch ausreicht, ihre Bedarfe zu befriedigen
  4. Weil unsere Tiere Gemüse liegen lassen (immer wieder mit verschiedenen Sorten getestet)
  5. Weil ein sinnvolles Trockenfutter, welches wir zusätzlich geben, immer noch besser als Gemüse ist
  6. Weil es die Tiere zwingt, aktiv zu sein
  7. Weil sie sofort kommen, wenn frisches Grün nachgefüllt wird
  8. Weil ich aktuellen, wissenschaftlichen Aussagen aus Deutschland misstraue
  9. Weil ich Langeweile habe ... äh, Moment mal, das hab jetzt nicht ich hingeschrieben... :-)

Quellen:
  • Kirchgeßner, M.; Roth, F. X.; Schwarz, F. J.; Stangl, G. I. (2008): Tierernährung. Leitfaden für Studium, Beratung und Praxis. 13. Aufl. DLG-Verlag. ISBN 978-3-7690-0703-9
  • Krieg, R. 2011. In der Kaninchenfütterung kommt es auf den Energiegehalt an. Futterzusatzstoffe und Futterergänzungsmittel. Kaninchenzeitung. 2011, 13, S. 8-10.
  • Van Soest, P. J. (1994): Nutritional ecology of the ruminant. 2. Ed. Comstock Publishing. ISBN 0-8014-2772-X.

Artikel

Qualität und Quantität (2)